„Papa, ich brauch Geld fürs Schwimmbad“
Vernahm er dumpf und grummelte im Schlaf. Seine Tochter drückte die Türklinke herunter, wie immer ohne anzuklopfen und platzte in sein Schlafzimmer.
„Papa, wo ist dein Geldbeutel, ich brauche wenigstens vierzig Euro, wir wollten im Schwimmbadbistro noch Burger essen gehen und ich hab nichts mehr, weil du Blödmann mir wie immer zu wenig Taschengeld gibst.“
Er brummte etwas Unverständliches, während sie ihn mit Informationen bombardierte, mit denen er im Halbschlaf nichts anzufangen wusste. Letztendlich knuddelte er noch fester mit einem dicken Plüschwaran und driftete zurück ins Dämmernde.
„PAPA! Ich brauch Geld, mach was!“
„Geh weg.“
Stieß genuschelt er hervor, noch gedanklich im Traum noch mit wilden Bestien kämpfend, bekam er gar nichts mit, was seine Tochter von ihm wollte, irgendwas mit Schwimmbad.
„Man, du bist so ein Arsch, dabei ist heute mein Geburtstag!“
Mir doch egal, schoss es ihm flüchtig durch den Kopf.
„Moment mal, wer ist das denn?“
Lucys Schritte entfernten sich ein Stück.
„nein … NEIN! Du dummer, dummer Vollidiot!“
Ihre Stimme brach und sie fing an zu heulen.
„Du, du, du Arschloch! Weißt du wie viel Mühe ich mir mit Frau Hofgärtner gemacht habe? Und jetzt fickst du mit deinem Spatzen-Hirn eine andere. Du Scheusal, du blödes, blödes Arschloch! Fick dich doch Papa! Ahhh!“
Sie trommelte mit ihren Händen auf ihn ein, während sie kreischte und schluchzte.
In aufkeimender Wut schoss er aus dem Schlaf hoch und packte ihre zarten Handgelenke.
„Hör auf mich zu hauen und mich zu beschimpfen oder wir blasen deinen Geburtstag ab.“
Sie starrte ihn mit großen rehbraunen Augen an und er hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
„Das ist deine Tante, du kleines Scheusal!“
Ihre Augen wurden noch größer.
„Ich hab eine Tante?“
„Ja, Gianna, drei Jahre jünger als ich. Mein Geldbeutel ist im Büro in einer der Schubladen neben dem Schreibtisch, nimm dir da einen Fuffi raus und ich spendiere euch noch ein Eis. Und jetzt marsch.“
Seine Tochter nickte eifrig und zischte aus dem Schlafzimmer. Seufzend ließ er sich zurück in die Kissen sinken.
„Na das ist ja mal ein Herzchen.“
Kam es von seiner Schwester, die sich hingesetzt hatte und im Koffer nach einem frischen T-Shirt fischte.
„Von wegen, das war noch harmlos. Du musst sie erstmal erleben wenn ihr was nicht passt. Bockigkeit und Sturheit pur. Hat sie von ihrer Mutter und bestimmt auch von ihrer Tante.“
„Ich seh schon, ich war aber nie so.“
„Oh doch, du hast es nur verdrängt, das ist alles. Du warst die Pest.“
„Nein, ich bin völlig rational und rein logisch.“
Seine Schwester schmollte ein bisschen. Sie hatte den Koffer geöffnet, der penibel aufgeräumt war und angelte nach einer akkurat gefalteten Jogginghose. Die langen Haare band sie sich zu einem Pferdeschwanz hoch.
„Was?“
Sie hatte seinen Blick bemerkt und sah ihn misstrauisch an.
„Och nichts.“
„Noch nie eine nicht völlig bekleidete erwachsene Frau gesehen?“
„In Natura nicht seit Lucys Mutter vor sechzehn Jahren, nein.“
„Oh.“
Sie schien einen Moment nachzudenken.
„Und dein Date, diese Frau Hofgärtner?“
„Ich bin aus dem Alter raus, das man es beim ersten Date sofort treiben muss. Nein wir haben Mario Kart gespielt und einen Film geguckt.“
„Ich seh schon, warum du keine Partnerin hast, du bist eindeutig zu soft. Weder Player noch Bad Boy.“
„Ich bin Papa, da muss ich auch an meine Tochter denken und die braucht im Zweifelsfall eine verantwortungsvolle Mutter und kein Bett-wütiges Party-Häschen.“
Er unterdrückte ein Grinsen, denn Lucys Mutter war in der Tat ein Bett-wütiges Party-Häschen gewesen, aber das sagte er keinem. Assya hatte ihn auch immer gegen seinen Willen in die Clubs oder auf Konzerte mitgeschleift.
„Solange sie einen verantwortungsvollen Papa hat, geht das doch.“
„Ich geb mir Mühe.“
„Indem du ihr sagst, wo du deinen Geldbeutel hast und ihr zu verstehen gibst, das sie sich rausnehmen darf so viel sie will. Das ist nicht verantwortungsvoll. Und dann noch sagen, sie kann sich ruhig einen Fuffi rausnehmen, so lernt sie doch nie verantwortungsvoll mit Geld umzugehen. Mein großer, Chester, hat am Ende der High School ungefähr 30 Dollar Taschengeld im Monat und einen Zuschuss für Benzin bekommen. Du weißt schon, ohne Auto bist du in den USA gestrandet und die Städte etwas außerhalb der Innenstadt sind Fahrradfahr-feindlich. Strodes und son Mist, kennst du ja. Ich freu mich schon darauf wieder im Frühling durch Potsdam zu radeln. Anyway, du kannst nicht einfach deiner Tochter das Geld in der Arsch blasen!“
Sie hatte natürlich recht, er war mies darin ein Kind zu erziehen und kam ständig auf komische Ideen.
„Ich weiß ja zumindest, was ich an Bargeld hab. Alles was sie sich zu viel rausgenommen hat, bekommt sie weniger als Geburtstagsgeld. Das hat sie auf die harte Tour gelernt. Ich denke sie hat ein schlechtes Gewissen, dass sie mich angeschrien hat und nimmt sich maximal 35 raus.“
Die Tür ging deutlich auf und zu und er rappelte sich auf.
„So, Töchterchen ist in drei Stunden spätestens wieder da. Sieh zu. Du duscht zuerst, bei fünf Zimmern wirst du dich schon nicht verlaufen. Also ab ins Bad.“
„Du bestimmst nicht, was ich mache.“
„Dich zu etwas zu zwingen auf das du keine Lust hast, ist buchstäblich unmöglich. Aber heute ist der sechzehnte Geburtstag deiner Nichte, die du gar nicht richtig kennst. Also wäre es schön ihr den Geburtstag nicht zu ruinieren und du wenigstens versuchst eine gute Tante zu sein.“
„Das bin ich bestimmt. Und wenn ich schon mal hier bin, nehme ich mir erst eine traumhafte Badewanne und dusche danach in aller Ruhe.“
„Faule Kuh.“
Sie streckte ihm nur die Zunge raus und stand auf und ging an ihm vorbei in den Flur, machte mal eine, mal die andere Tür auf und stolperte dann ins große Bad. Er war fast schon am überlegen, sie einfach so im Bad einzuschließen. Er verwarf den Gedanken und warf einen Blick auf sein Handy und scrollte durch die ersten Weihnachtsglückwünsche, bei einer SMS grinste er besonders und checkte seine Uhr, Pünktlichkeit war heute wichtig. Dann spurtete er schnell ins kleine Bad und duschte sich. Nach fünf Minuten stellte er das Wasser ab und putzte sich wie gewöhnlich vor dem Frühstück die Zähne. Aus dem Bad vernahm er Giannas Gesumme und sprudelndes Wasser. Er hatte eine maßgefertigte Badewanne in Überlänge, die das Zweieinhalbfache Füllvermögen einer Standardbadewanne hatte, also würde es bei voll aufgedrehten Wasserhähnen gute 30 Minuten dauern, bis die Wanne voll war. Das gab ihm genug Zeit für die gröbsten Vorbereitungen.
In der Küche futterte er schnell drei Bananen und trank eine halbe Dose Red Bull. Nicht ganz gesund, gab ihm aber den Energiekick, den er brauchte. Mit dem Kellerschlüssel in der Hand sauste er los und holte die große Klappkiste mit den Geschenken, das dauerte nur fünf Minuten. Das sorgfältige drapieren unter dem Baum dauerte schon etwas länger, dazu kamen zwei große eingepackte Geschenke, in denen es verdächtig raschelte, sie waren im Schuppen hinter den Putzsachen versteckt, also der Ort wo seine gegen das Putzen regelrecht allergische Tochter niemals im Leben freiwillig suchen würde. Er stellte sie strategisch auf und musterte den Baum zufrieden.
Könnte er etwas seiner Schwester schenken? Er dachte nach, dann hatte er eine Idee, die recht schnell gehen würde, also wieder in den Keller. Er hatte eine große Arbeitsfläche in seinem zweigeteilten Keller. Einen mit einer Trennwand abgetrennten Teil für Basteln und der andere für pure Aufbewahrung, größtenteils für Getränke und seinen Prepperkram, den die meisten seiner Freunde und Verwandte albern hielten. Aber nach Corona und dem Krieg in Osteuropa hatte er gerne genug von allem im Keller um wochenlang bei jedem Wetter durchzuhalten und Neidern und Drecksäcken auf die Glocke zu hauen. Er hatte zwar noch nie jemandem außerhalb von Kampfsporttraining auf die Glocke gehauen, aber er war immer gerne vorbereitet. Und mit dem Bogen war er mittlerweile auch auf mehr als 50 Meter treffsicher und besaß fünf Bögen und hunderte von Pfeilen plus eine Harpune, zwei Armbrüste und mehrere Luftgewehre. Man wusste nie, nein man wusste nie was noch passieren kann.
Aus einer Ecke nahm er nach kurzem Suchen eins der Pakete mit gestanzten Teilen aus Pappe, die er fast schon routiniert aus den Rahmen herausdrückte und zusammenfaltete und an einigen Stellen mit Klebstoff fixierte. In die verschiedenen Teile legte er Dinge, aus seinem Vorrat. Stifte, einen Block, Gutscheine, Karten, ein Buch, ausgewählte Getränke und Snacks. Danach fügte er alles zusammen und schloss die äußerlich simple und schlichte Box, die er anschließend in Geschenkpapier einwickelte. Zwar vertrieb er die Boxen nicht gewerblich, hatte er doch das Konzept gewissermaßen an eine andere Firma lizensiert, aber unter seinen Freunden und Bekannten waren seine Boxen ein sehr gern gesehenes und beliebtes Geschenk. Die Schablonen für die Formteile entwarf er mit CAD und ließ sie bei einem Spezialisten hier im Haus anfertigen, mal als Kleinserie, mal individuell. Er hatte einen Hersteller gefunden, bei denen er die Formteile praktisch für umsonst bekam.
In einer Ecke betrachtete er den riesigen Stapel an großen Kisten diverser Klemmbaustein Hersteller, er selbst sammelte eigentlich nur noch CaDA, wenn es um geniale Technik Sachen ging, da war LEGO eigentlich gestorben, aber seiner Tochter zuliebe, die eher Fantasy- und Mädchen-Sachen mochte, kaufte er ihr auch das Plastikspielzeug der Dänen. Die Kisten standen hier unten, damit seine Tochter nicht eifersüchtig wurde, denn für seinen Kanal gab er jeden Monat eine hohe dreistellige Summe für neue Sets aus. Wenn seine Tochter wieder in der Schule war und er die erste Januarwoche noch frei hatte, würde er tagelang auf Vorrat Aufbau-Videos und Reviews drehen, so viel stand sicher. Nicht das sein Kanal doch noch einging, allerdings war er schon mächtig stolz auf die silberne Plakette für hunderttausend Abonnenten seines kleinen Kanals.
Mit der mittelgroßen Box unterm Arm, die ein gewisses Gewicht hatte, verließ er den Keller und schloss ab, summend fuhr er im Fahrstuhl in den dritten Stock, betrat seine überteuerte gigantisch große Wohnung, die ursprünglich eigentlich als reine Bürofläche gedacht war und nur durch Beziehungen und viel Überzeugungsleistungen und einen Batzen Schmiergelder in eine protzige Wohnung umgebaut werden durfte, und legte das dicke Päckchen unter den Baum.
Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es noch gute anderthalb Stunden bis zu Lucys vermuteter Ankunft waren.
Aus Neugierde ging er in sein Büro, sein Geldbeutel lag neben seiner Tastatur, wo seine Tochter ihn wie immer achtlos hingeworfen haben musste. Sie hatte es nicht so genau mit dem sorgfältigen und vorsichtigen Umgang mit fremden Sachen. Er hatte sie mehr als einmal beim Stehlen oder beim zerdeppern von etwas was ihm heilig war erwischt. Sicherheitshalber zählte er nach und stellte fest, dass sie sich tatsächlich doch nur um die vierzig Euro herausgenommen hatte, braves Mädchen.
Einer Schublade entnahm er einen Briefumschlag aus schwerem edlem Papier und schrieb in schwungvollen Buchstaben den vollen Namen seiner Tochter, also Amber Lucy Schwarz, mit Füller auf die Vorderseite und ging in sein Schlafzimmer. Er öffnete eine unscheinbare breite turmhohe Schranktür mit einem ungewöhnlichen Schlüssel und musterte den großen, halb in die Wand eingelassenen Tresor dahinter. Das war sein Staufach für Sachen, die seine Tochter nichts angingen, im Keller war noch ein zweiter fetter Tresor, sogar noch größer als der hier. Er tippte die achtstellige Kombination ein, auf die keiner kommen würde, es sein denn er wusste, welchen obskuren Panzer in dem mittlerweile eingestellten Onlinevideospiel World of Tanks er am coolsten fand.
Die schwere Tür schwang auf und er öffnete eine der Schubladen und nahm ein fünfzig Euro Noten-Bündel heraus und zählte sechs Scheine ab. Aus einem anderen Fach entnahm er eine Kleinigkeit, die indirekt auch ein Geschenk für Lucy war und steckte sie sich in die linke Hosentasche.
Er schloss den Tresor sorgfältig und legte dreihundert Euro in den Briefumschlag und verschloss ihn. Für eine Haarkurpackung sollte das Geld wohl reichen, wobei ihn seine Tochter bestimmt extra anhauen würde und um Geld bettelte, „immerhin brauchen lange seidig schwarze Haare eben extra viel sorgfältige und regelmäßige Pflege“ betonte sie immer zu sagen um ihm das Geld aus den Rippen zu leiern.
Er fand immer, ein nerdiges Hoppelhäschen musste sich nicht wie eine eitle Diva aufführen, aber dann schaltete sie wieder sofort auf trotzig um und heulte ihm die Ohren voll.
Ihm wurde schon bei dem Gedanken schlecht, wie viel sie seit einem guten Jahr jeden Monat für Makeup ausgab, um dann jeden Tag aufs Neue wie ein handelsübliches glattgebügeltes Instagram Model auszusehen, die es wie Sand am mehr gab und seiner Meinung aber auch nichts mit echtem Modeln zu tun hatte. Sie spielte zwar Videospiele als gäbe es kein Morgen, zog sich aber wie eine Schlampe an und postete zu viele Selfies mit perfekten Makeup auf Instagram. Mit vierzehn hatte sie Zeternd und Tobend „Ausgehandelt“ dass ihr doofer Vater gefälligst keine Stimme in der Entscheidung haben darf, was sie an Kleidung trägt. Aber der dumme Trottel namens Papa soll trotzdem immer schön zahlen, wenn sie etwas haben will und zwar sofort. Vielleicht war er doch ein rückratloses Weichei, zumindest hatte er ihrem Willen immer schön gehorcht und ließ sie tragen was sie wollte, aber bei dem Zicken-Terror den sie hin und wieder an den Tag legte, wollte er in erster Linie seiner verdammte Ruhe, wenn er schon spielend zehn Stunden täglich arbeitete um ihr verschwenderisches Teenie-Leben zu finanzieren, für das sie sich nie bedankte. Sie beschwerte sich trotzdem in einer Tour, dass er sowieso eh immer alles falsch mache, irgendwann schaltete er dann auch auf Durchzug und widmete sich seinen Escapism-Hobbies wie Zocken, Schreiben und Klemmbausteinen. Eigentlich hatte er letzten Freitag gehofft, sie wäre wieder etwas umgänglicher, aber sie hatte es auch nur getan, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte eine Freundin für ihn zu besorgen, weil sie eine Mama haben wollte.
Tja, wenn sie sich so anziehen wollte und Schwachsinn tragen wollte, dann bitte sehr, er hatte damit nichts zu tun. In erster Linie war es zu viel Makeup, viel zu viel. Ihre Mutter hatte nie Makeup getragen, und sie hatte es regelrecht als abstoßend gefunden, wenn eine Frau Makeup trug um Männer zu täuschen, wie sie es zu nennen gepflegt hatte. Er hatte seine Tochter eben ausgesprochen schlecht erzogen, fand er. Arbeite jeden Tag bis in die Abendstunden und füllte sie mit Geld ab, damit sie ihn während seiner bescheidenen Freizeit nicht auf den Keks ging. Und dann die Beschwerde Freitag, dass sich ihre besten Freundinnen zu Schicki-Micki Gören entwickelten … er schleppte diese ganzen furchtbaren Mode- und Lifestyle Magazine nicht an und kaufte sich Unmengen Kosmetika und Outfits mit knappen Ausschnitt … schlimm genug dass er Vollidiot sich breitschlagen ließ, ihr auch noch bereitwillig Geld für Makeup und viel zu häufige Besuche beim Hairstylist in die Hand zu drücken. Selber Schuld du rückratloser leichtsinniger Vollidiot!
Manchmal zählte er die Tage bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag, wobei er genau wusste, dass er selbst auch erst mit 24 von zuhause ausgezogen war. Und so ernst, wie sie ihre Schulbildung nahm, würde er sie wahrscheinlich noch lange an der Backe haben.
Er arrangierte die Pakete um und war noch ein Stück zufriedener. Danach pilgerte er in die Küche und deckte den Tisch für vier Personen. Lucifer war aufgetaucht und schmiegte sich an sein Bein, nach einer intensiven Streicheleinheit machte es sich der Kater auf einem Stuhl bequem und schnurrte zufrieden.
Im Kühlschrank stand schon die mächtig große Schokotorte mit Schokocreme-Füllung und Marzipandeckel bereit, die er gestern gebacken und verziert hatte. Eigentlich war es vom Rezept her die Torte, die ihm seine Mutter jahrelang zu seinem Geburtstag gebacken hatte, nur größer – passend eben für zwei Vielfraße. Er war dazu übergegangen, die Schokotorte für sich selbst zu backen, als er in diese Wohnung eingezogen war und seine Tochter fand die Torte so gut, dass sie sich diese auch zu ihrem eigenen Geburtstag gewünscht hatte, als sie fünf gewesen war. So gab es seitdem mindestens zweimal im Jahr Schokocreme-Torte – einmal zu Weihnachten und einmal kurz vor Ostern. Bei Kindergeburtstagen hatte er ruhig mal einen ganzen Tag lang Torten, Kuchen, Muffins und Gebäck gebacken um die Brut zu bespaßen. Und dann gab es immer eine, von seiner Mutter aus der Ferne ausgetüftelte Schatzsuche. Zumindest war das gut gegangen, bis sie zwölf gewesen war, danach war ein Geburtstag schrecklich schief gegangen und er organisierte stattdessen lieber Karten für einen Event für sie und ihre Freundinnen.
Sorgfältig schnitt er die Torte in acht große Stücke, wovon seine Tochter vermutlich die Hälfte verputzen würde.
Es würde frisch gepressten Orangensaft und Kakao für Lucy geben, die Kaffee eigentlich nicht so richtig mochte. Zum Glück hatte er eine elektrische Saftpresse und machte sich ans Werk. Lucy bekam das größte Glas Saft und er tat ihr das größte Stück Torte auf. Mit dem Kakao würde er warten, bis sie da war, zudem würde sie für gewöhnlich nochmal in Ruhe duschen, seine Tochter hasste den Chlorgeruch nach dem Schwimmen. Und dann würde sie sich eine halbe Stunde schminken … ach ja.
Jetzt stand er unschlüssig in der Wohnung herum. Der Küchentisch war sorgsam vorbereitet, der Baum geschmückt, jetzt fehlte nur noch seine Tochter. Er tigerte zur Badezimmertür und linste durch das Türschloss, Gianna planschte in der Badewanne und machte Motorengeräusche eines Flugzeugs, während sie mit den Fingern eines nachahmte, das über sie hinwegzischte. Von wegen er war der einzige in der Familie Schwarz, der kindisch war.
Vom Nachttisch nahm er sein Handy und ein Taschenbuch und ging ins Wohnzimmer, um das sechste Werk eines befreundeten Autors zu lesen, solange seine Tochter noch in der Schwimmhalle war. Er las etwa eine gute Stunde, als sich die Haustür öffnete und er legte das Buch weg und ging in den Flur. Lucy zog sich gerade die Schuhe aus und stellte den Rucksack ab.
„Das nasse Zeug bitte im Bad aufhängen Lucy.“
Sie schreckte zusammen und drehte sich zu ihm.
„Muss ich das machen? Heute ist doch mein Geburtstag!“
Er seufzte, sie hätte es auch so nicht gemacht.
„Ich geh nochmal schnell duschen.“
„Lucy?“
Sie sah ihn bemüht unschuldig an.
„Kein Makeup, wir wissen alle, dass du totale Akne hast, die musst du nicht noch mit Foundation zuspachteln, das ist in deinem Alter völlig normal. Außerdem, wem willst du mit Makeup etwas vormachen, das ist doch falsch gegenüber deiner Familie.“
Sie sah etwas betreten zu Boden, nickte kurz wenig überzeugt und tappte ins kleine Bad – ins große ging sie nie, wahrscheinlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Waschmaschine sah. Wo war seine Schwester überhaupt?
In seinem Schlafzimmer hängte er die trockene Bettwäsche von Vorgestern ab und hängte Lucys nasse Schwimmsachen auf, die sie nicht einmal richtig ausgewrungen hatte und dementsprechend klatschnass waren. Kleines Biest.
Dann ging er in die Küche, Gianna saß auf der Bank und blätterte in einem Teeniemagazin, die Lucy ständig anschleppte.
„Interessant?“
Sie sah nicht auf.
„Durchaus, was mir in meiner Jugend nur alles entgangen sein muss. Schrecklich über welchen Klatsch sich Teenie-Gören von heute aufregen.“
„Vorsicht, deine Nichte ist auch eine Teenie-Göre!“
„Stimmt, aber gerade ist sie nicht da, ich glaube du kannst schon mal Kaffee aufsetzen. Außerdem hast du ihr noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert, nur gemaßregelt. Das macht ein guter Papa aber nicht!“
Er biss sich auf die Lippen, das stimmte. Resigniert füllte er die French Press Kanne mit heißem Wasser.
„Wir können uns Zeit mit dem Kaffee lassen, sie wird erst eine gute Viertelstunde heiß Duschen und dann eine Viertelstunde Föhnen. Manchmal wünschte ich, sie hätte kürzere Haare. Zu mindestens bleibt uns eine halbe Stunde Schminkerei erspart. Sie hat schlimme Akne und überspachtelt sich trotzdem jeden Tag aufs Neue die armen Poren.“
„Mhm, kurze Haare müssen einem aber stehen und das tut‘s vielen eben nicht. Und lass deine Tochter doch mal in Ruhe, seit ich hier bin und sie gerade Mal nicht zur Stelle ist hackst du ohne Unterlass auf deiner Tochter rum und das auch noch an ihrem Geburtstag. Ich rede nie schlecht über meine Söhne, auch nicht hinter ihrem Rücken. Aber gut, die sind nicht so widerspenstig und zickig wie deine Tochter.“
Er setzte sich auf einen der Stühle, die lange Eckbank war L-förmig plus drei Stühle um den Tisch verteilt. So konnten insgesamt sechs Menschen Platz nehmen, im Wohnzimmer konnten mit ausgeklappten Tisch bis zu zehn Menschen am großen Tisch sitzen. Er wusste nicht warum er sich so einen großen Tisch gekauft hatte, schließlich verwendeten sie ihn effektiv nur dann, wenn die ganze Familie zusammen kam und das passierte eigentlich nur einmal im Jahr rund um Silvester. Aber er war gut für Brettspielorgien mit seinen Freunden, gerade seine Pen&Paper Eigenkreationen waren sehr beliebt, deren Level aus LEGO Steinen gebaut waren.
„Sag mal, warum hast du Trottel eigentlich für vier gedeckt? Wir sind doch nur zu dritt oder ist das eine Art running Joke, dass diese blöde Katze da mit am Tisch sitzt?“
Lucifer tat ganz unschuldig, während er auf seinem Stuhl saß und schnupperte, immerhin hatte Joschi Räucherlachs und Roastbeef gedeckt, die Leibspeisen des Katers. Gianna sah ihren großen Bruder misstrauisch an, als Antwort lächelte er sie geheimnisvoll an.
„Wir warten noch einen Gast. Sozusagen Lucys größtes Geburtstagsgeschenk. Sie müsste jeden Moment eintreffen, sofern ICE und Anschluss nicht Verspätung hatten.“
„Soso, eine geschenkte Person, wusste gar nicht das Sklaverei in Deutschland erlaubt ist.“
Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und schüttelte mit dem Kopf. Wenn man vom Teufel sprach klingelte es an der Tür. Joschi schoss zur Tür und drückte auf den Summer und wartete an der Haustür, Gianna war neugierig in den Flur getreten. Joschi machte die Tür weit auf und war gespannt.
Nach zwei Minuten öffnete sich die Tür des Fahrstuhls und eine Frau mit asiatischen Gesichtszügen trat heraus, der Blick ihrer dunklen Augen fixierte ihn und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Ein sehr schiefes Grinsen, was sie der hässlichen großen Narbe auf der linken Wange zu verdanken hatte, die sich von knapp über dem gesunden linken Auge bis runter zum Kinn erstreckte. Im Nu stand sie vor ihm – sie war etwa einen Kopf kleiner als er.
Sie war schwer behangen wie ein Weihnachtsbaum, eine riesige Kamera hing ihr vor der Brust, der Rucksack in Tarnfarben auf ihrem Rücken war gewaltig und mit einer Hand schleppte sie noch eine zusätzliche Reisetasche. Sie strahlte über beide Ohren und er ebenfalls.
„Komm rein. Ist schon alles vorbereitet.“
Auf der Türschwelle stolperte sie in eine feste Umarmung mit ihm. Sie roch als hätte sie seit Wochen nicht geduscht, aber das störte ihn nicht. Wichtig war doch nur, dass sie wieder vereint waren.
„Kann ich mein Zeug irgendwo abstellen?“
Ihr Deutsch war richtig gut geworden, stellte er fest, und ihr früher sehr markanter russischer Akzent war nur noch mit viel Fantasie zu erahnen.
„Klar komm mit. Ich nehme die Tasche.“
Sie hielt kurz inne um sich die schweren schlammverkrusteten Stiefel auszuziehen. Dann drückte sie ihm die schwere Reisetasche in die Hand und folgte ihm in löchrigen Wandersocken. Sie schien ganz schön schlapp zu sein, aber sie sah sich aufmerksam und neugierig um. Sie winkte Gianna im Vorbeilaufen kurz zu. Er führte sie ins Schlafzimmer wo sie ihren schweren Rucksack absetzte und die große teure Kamera sorgsam auf sein Bett legte. Dann sah sie ihn liebevoll mit Tränen in den Augen an.
„Ich hab dich so vermisst!“
„Und ich erst, nah komm mal her.“
Er beugte sich zu ihr runter und küsste sie auf den Mund. So standen sie einen Moment, sie wussten beide, dass es Monate dauern würde, sich alles zu erzählen. Widerwillig löste er sich von ihr.
„Kann ich mich hier irgendwo frisch machen? Ich stinke drei Meilen gegen den Wind und mir ist ein Fell gewachsen, das ist ganz schlimm.“
Er schmunzelte, sie hasste unerwünschte Körperbehaarung, schon immer. Was ein Problem war, weil sie um die Welt bis in die entlegensten Winkel reiste und die meisten Orte in denen sie landete eher keine Waxing-Studios hatten.
„Klar, das große Bad müsste frei sein, meine Tochter duscht immer nur im kleinen Bad.“
„Gut“
Sie zögerte.
„Wie ist sie?“
„etwas furchtbar und zickig ohne Ende, fürchte ich. Aber hin und wieder ist sie ein liebes Mädchen.“
Sie sah ihn mit einem schwer zu deutenden Blick an.
„Ich hab keine frischen Sachen dabei, ich hatte leider keine Zeit zum Shoppen.“
„Macht nichts, ich habe noch ein paar Kisten mit deinen Sachen von früher. Gewaschen und gebügelt. Nach Größe und Farbe sortiert. Wenn du nicht überraschend fett geworden bist, sollten sie noch passen.“
„Super, vielen Dank. Das ist so typisch du, dass du alles sortierst. Aber ich bin nicht fett!“
Sie knuffte ihn in die Seite, dann zwinkerte sie ihm zu und stieg aus ihren Tarnklamotten, echte Real Tree Tarnsachen, nicht Armee-Gerümpel. Er stieg auf sein Bett und griff nach einer von mehreren umzugskartongroßen Pappkisten mit ihren alten Sachen und stellte sie ab. Er guckte hinein und reichte ihr nach einer halben Minute Wühlerei ein paar Sachen.
„Ich hab noch Shampoo und so Zeugs für Damen wie dich.“
„Oh wie schmeichelhaft. Wo ist das Bad?“
„Gleich nebenan, stell dir vor, da hätte unser altes Wohnzimmer zweimal reingepasst.“
„Du übertreibst, oder?“
„Du siehst es ja gleich.“
Er drückte die Tür zum Bad auf und ihr klappte die Kinnlade herunter.
„Oh cool, sinnlos riesig und sogar barrierefrei. Immerhin mit Trockner und, ach du spinnst doch, einer Saunakabine. Fehlt nur noch der Whirlpool.“
„Der ist in der Saunalounge hinter der Milchglaswand, den benutze ich öfters, Die Saunalounge hat auch Kaffeemaschine, Snackbar und Kühlschrank. Warte Ich bring dir noch ein Duschtuch. Den Stapel mit den frischen Sachen lege ich auf die Waschmaschine. Dahinten im unteren Schrank links ist Shampoo alphabetisch nach Sorten sortiert.“
„Alles klar. Danke dir. Dann müssen wir unbedingt mal schwitzen gehen.“
Sie zog ihre Unterwäsche aus und verschwand mit einer Flasche Shampoo in der geräumigen Dusche. Sie war schlank, fast schon ein bisschen zu dünn, aber so wie er kochte, würde sie demnächst heftige Workouts machen um weiterhin so schlank zu bleiben. Ansonsten war alles beim Alten: schön knackiger Po und fast so flach wie ein Brett. Aber ein schön geformter Po war ihm wichtiger als pralle Oberweite.
Aus dem Wäscheschrank im Schuppen entnahm er ein mintfarbenes Duschtuch, das nach Weichspüler duftete, holte noch eine große Halbliter Dose Red Bull aus dem Kühlschrank und legte es ihr zusammen mit den frischen Kleidern auf die Waschmaschine, sie sah aus, also könnte sie etwas Energie vertragen. Wieder in der Küche schenkte er sich und Gianna Kaffee ein, seine Schwester schien vor Neugierde zu platzen.
„Wer ist das denn jetzt bitte?“
„Och, nur eine alte „Freundin“ von früher.“
„Ihr scheint euch ja echt nahe zu stehen.“
„Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr.“
Lucy kam als erste mit feuchten Haaren und mehr oder weniger im Schlafanzug in die Küche getappt. Immerhin hatte sie auf Makeup verzichtet. Er stand auf und umarmte sie fest, um nicht zu sagen er erdrückte sie.
„Ey Papa, ich krieg keine Luft mehr!“
Presste sie hervor und er lockerte die Umarmung ein bisschen.
„Herzlichen Glückwunsch zum sechzehnten Geburtstag, Lucy.“
Dann löste er die Umarmung und klopfte ihr auf die Schulter.
„Wo sitz ich?“
„Wo das größte Stück Torte auf dich wartet. Möchtest du einen Zotter Kakao?“
„Nein ich möchte mal Kaffee ausprobieren, kannst du mir einen machen?“
„Klaro.“
Er machte ihr den Becher halbe-halbe mit geschäumter Milch und Kaffee voll und versenkte zwei Würfel Zucker darin.
„Bitte sehr Geburtstagskind.“
„Danke sehr.“
Sie musterte den Tisch, dann hellte sich ihre Miene auf als sie den vierten Teller bemerkte.
„Hast du Frau Hofgärtner eingeladen?“
Er schnaubte amüsiert.
„Nein diesmal nicht, aber diese Person möchte dir unbedingt zum Geburtstag gratulieren.“
Sie runzelte die Stirn.
„Wer ist das denn?“
Verunsicherung lag in ihrer Stimme.
„Na weißt du, ich dachte ich könnte auch mal nach einer Frau Ausschau halten, die eine gute Mutter für dich sein könnte.“
Ihre Augen füllten sich zu seiner Bestürzung mit Tränen.
„A … Aber das h … hab ich doch schon längst gemacht!“
„Aber weißt du Lucy, ich glaube so funktioniert die Welt nicht.“
„Aber Frau Hofgärtner ist doch so eine gute Wahl, ich will sie als Mama, nicht irgendwen!“
„Lucy, das Leben ist kein Wunschkonzert.“
„Ich will aber! Ich such mir meine Mama aus, da hast du nichts zu sagen.“
Sie verschränkte trotzig die Arme und schniefte.
„Lucy nein, ich hab das letzte Wort in dieser Angelegenheit!“
„Du bestimmst aber nicht mein Leben.“
„Da ich hier die Rechnungen zahle, bin ich auch der Bestimmer.“
„Du bist ein furchtbarer Papa.“
„Aber ein guter Ehemann.“
Schlagwort: Kapitel 2
Der Katastrophenzyklus – Kapitel 2 – Teil 1
Der Abend vor Weihnachten. Es dürfte etwa zehn sein, Lucy war schon früh zu Bett gegangen, morgen wollte sie vormittags nochmal mit ihrer Freundin Anna (oder war es Lena?) ins Schwimmbad, Anna war zwar ziemlich moppelig, aber sie schwamm echt fix und gerne, genauso gerne wie seine Tochter.
Joschi schmökerte in einem Architekturbildband, den Tipp hatte ihm seine Schwägerin Natalie gegeben, die als Innenarchitektin sehr erfolgreich arbeitete, um nicht zu sagen, dass sie eine der gefragtesten Innenarchitektinnen Deutschlands war. Dazu trank er ungesunde Cola und aß Gummibärchen. Die Küchentür war nur angelehnt, damit Lucifer, der auf seinem Schoß saß und sich die Bilder ansah zur Not raus konnte, wenn ihm langweilig wurde oder er auf Klo musste.
Ein Klingeln ließ ihn heftig zusammenschrecken. Wer war das? Und vor allem so spät? Er sprang auf und schoss in den Flur und spähte durch den Spion, der Kater sauste hinter ihm her und kratzte an der Wohnungstür. Eine großgewachsene Frau in einer dicken Winterjacke mit plüschigem Fellkragen, einen Rucksack auf dem Rücken und umfasste den Griff eines ziemlich großen Rollkoffers.
Wer war das denn? Und was wollte die mit so viel Gepäck vor seiner Wohnungstür? Ihr Gesicht kam ihr wage bekannt vor und er dachte eine Weile nach wer das sein könnte, ging alle Gesichter von Frauen in diesem Alter in seiner Bekanntschaft durch.
Dann traf ihn der gedankliche Blitz und er erkannte sie wieder, wenn auch nicht sofort. Er fluchte innerlich, Gianna, seine kleine, seit 26 Jahren verschollen geglaubte Schwester. Er öffnete missmutig die Tür und erwartete sie mit einer frostigen Miene.
„Was, kein strahlendes Lächeln deine liebe Schwester zu sehen?“
Fragte sie enttäuscht, es klang nicht gespielt.
„Was willst du?“
Fragte er ziemlich schroff und abweisend, er mochte sie nicht sonderlich. Sie war als Schwester die Pest gewesen und hatte sich mit neunzehn auf Nimmer Wiedersehen verdünnisiert – hatte er zumindest angenommen, jetzt schien, als würde er falsch liegen. Er malte mit dem Kiefer, als sich ihre Augen auf einmal mit Tränen füllten, typische Krokodils-Tränen.
„Ich brauche jetzt einen Ort, wo ich unterkommen kann!“
„Such dir ein Hotel, davon gibt’s genug.“
„Ich kann nicht, ich bin nach langer Reise einfach so einsam und morgen ist schließlich Weihnachten.“
„Ist doch nicht mein Problem, du hast die letzten 26 Jahre sehr deutlich gezeigt, dass für dich nur deine Karriere zählt und dir deine Familie scheißegal ist.“
Jetzt heulte sie und bebte unter Schluchzern. Er fluchte.
„Ich … ich brauche familiäre Wärme.“
„Dann geh deinem anderen Bruder auf den Sack, der wohnt doch eh in Berlin in seiner Protzwohnung, wo allein jedes Kinderzimmer so groß ist wie mein Wohnzimmer.“
Sie sank zu Boden und bebte jetzt vor heftigen Schluchzern. Er seufzte, immer die große Show abziehen müssen – typisch Schwesterherz.
„Komm häng deine Jacke an die Garderobe, du Heulsuse. Ich mach dir einen Kaffee.“
Er streckte ihr die Hand hin und sie zog sich dankbar daran hoch. Dann marschierte er in die Küche und räumte den Bildband weg. Lucifer, der Kuschel-Tiger, sah ihn misstrauisch an (im Gegensatz zum alten Kater seiner Eltern war Lucifer richtig verschmust und kam immer kuscheln, wenn er nicht gerade schlief, das viele Kuscheln half bestimmt bei den Depressionen des Katers). Er wühlte in dem Berg Stofftiere und förderte ein hübsches dickes Plüschkrokodil hervor, Luise (nicht zu verwechseln mit Luise Hofgärtner), und legte es auf Giannas Seite auf den Tisch. Wenn man vom Teufel sprach stolperte sie in die Küche, trug nur noch abgenutzte Jeans und einen schicken, aber alten und ziemlich löchrigen dunklen Rollkragenpullover, und setzte sich an den Tisch. Sie starrte unschlüssig auf Luise.
„Was soll ich damit?“
„Knuddeln, was sonst.“
„Ich bin zu alt für Stofftiere.“
Brummelte sie missmutig.
„Das ist meine Wohnung, also heul dich gefälligst bei dem Plüschkrokodil aus. So, wie willst du deinen Kaffee?“
Sie knuddelte tatsächlich einen Moment mit Luise und schloss die Augen.
„Cappuccino mit zwei Zucker.“
„Kommt sofort.“
Er dachte an seine Whisky Sammlung, sagte aber nichts. Er gab still zu, dass er eigentlich zu viel trank. Lucy gab ihm auch hin und wieder gute Gründe.
Zwei Minuten später stellte er ihr einen dampfenden Becher hin und setzte sich hin. Er hatte sich eine Dose Red Bull aus dem Kühlschrank geholt, ein bisschen Nervennahrung tat bestimmt gut. Es zischte, als er die Dose öffnete und er einen Schluck nahm. Gianna trank schweigend Kaffee. Er kannte sie nur als Mädchen und Teenager, danach war der Kontakt mit ihr komplett abgebrochen und er hatte über fünfundzwanzig Jahre nichts mehr von ihr gehört, bis jetzt. Man merkte ihr das Alter an, die Fältchen und Grübchen um Mundwinkel und Augen. Ihre langen dunklen Haare waren mit ersten grauen Strähnen durchzogen. Er erkannte sie kaum wieder. Sie sah älter aus als 45, eher wie Mitte 50. Er sah einen schlichten Ehering am Ringfinger, also hatte sie Familie oder war geschieden, hing aber noch an der Beziehung und trug den Ring weiter.
„Warum tauchst du gerade jetzt zu Weihnachten wieder auf?“
Sie hob den Blick und sah ihn etwas nachdenklich an.
„Mein Mann möchte mit mir und unseren Söhnen zusammen gewissermaßen einen Neuanfang in meiner Heimat wagen, ich hab ja einen deutschen Pass, er muss hingegen noch eine Menge Papierkram einreichen, bevor er ohne weiteres hier leben darf. Und meine Söhne wollen hier studieren, bzw. mein Jüngster hier noch sein Abi machen.“
„Hm, wo hast du denn gewohnt?“
„Austin, Texas. In einem Einfamilienhaus etwas außerhalb. Ich hab die Reise schon eine Weile geplant gehabt und bin von Austin nach London und von London nach Berlin, alles erster Klasse. Und dann mit einem Taxi hier her, das war ganz schön weit. Jetzt bin ich total geschafft und müde.“
Die Staaten also, hätte er irgendwie auch vermutet.
„Bist du eigentlich reich? Du scheinst dir zwar einen langen sicherlich nicht billigen Flug leisten können, aber nicht ein paar neue Klamotten.“
„Naja, ein bisschen Luxus muss im Alter schon sein, nur habe ich als Studentin mit sehr wenig gelebt und zeige es eben nicht, dass ich gut verdiene und wohlhabend bin.“
„Was machst du denn beruflich?“
„Ich war bis vor ein paar Wochen der CEO eines großen IT-Konzerns, aber ich habe den Posten nach reichlicher Überlegung abgegeben, um mich auf den Umzug meiner Familie vorzubereiten und dann auch wesentlich mehr Zeit für sie zu haben.“
Sie guckte traurig.
„Wenn du so einen Job hast, verdienst du zwar einen Batzen Geld, aber Zeit für deine Kinder hast du dann nicht mehr.“
Sie schwieg einen Moment, drückte das dicke Plüschkrokodil an sich und trank einen Schluck Kaffee.
„Toll. Meine Schwester leitet einen riesen Konzern, mein Bruder ist einer der gefragtesten Regisseure Deutschlands und ich … ich bin nur der Familientrottel.“
Tiefe Resignation und Traurigkeit erfüllten ihn, er war doch nur ein kleines armseliges Licht, er hatte im Leben nichts, aber auch gar nichts erreicht.
Gianna sah ihn perplex an.
„Aber das stimmt doch gar nicht. Von uns drei Geschwistern hattest du zwar im Vergleich nicht so viel Glück im Leben und von dem was ich mitbekommen habe, hast du viel probiert und hattest auch viel Pech mit deiner Krankheit. Aber mach dich nicht so klein, du bist kein Versager. Guck dich um, du wohnst in einer verschwenderisch großen und traumschönen Wohnung in einer der besten Lagen Potsdams. Du bist recht erfolgreich als Autor unterwegs, bloggst seit über zwanzig Jahren mit einer treuen Leserschaft, bist echt gut auf Youtube zugange, mit über hunderttausend Abonnenten. Also tu nicht so als würde es dir schlecht gehen, du kleiner Jammerlappen. Vergleich dich halt einfach nicht mit Leuten, die mehr haben als du. So ein Verhalten ist dumm und kindisch und der schnellste Weg, unglücklich zu sein. Ich hingegen bin seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet, hab eine arg steile Karriere hinter mir und zwei tolle Söhne, aber wirklich gut fühle ich mich auch nicht.“
Er war etwas beschämt ihre Worte zu hören und sie hatte mit allem Recht. Nur wenn er sich zum Beispiel mit seinem Bruder traf und sich mit ihm unterhielt, war er immer so hin und weg von der mitreißenden Rede seines Bruders, vom aufregenden Leben in der Filmbranche, dass er schnell vergaß, dass es ihm doch eigentlich blendend ging und dann irgendwie mit seinem Bruder tauschen wollte und eifersüchtig auf dessen Leben wurde. Zumal Johnny eine bezaubernde und hinreißend schöne Ehefrau und zwei durchaus nette Töchter hatte, ganz anders als den wandelnden Albtraum, den seine eigene Tochter darstellte. Er war erfreut darüber, dass seine Schwester ihn nicht für einen Trottel hielt, aber besorgt, was ihren letzten Satz betraf.
„Wieso, bist du krank?“
„Nein, ich bin einigermaßen fit, aber viel Alkohol, Zigaretten und gelegentlich Drogen im Studium und auf Partys haben Spuren hinterlassen. Und ich bin nicht stolz darauf, dass ich lange nicht gesund gelebt habe. Jetzt hoffe ich auf einen Neuanfang in meiner Heimat, auch wenn ich mittlerweile länger in den USA als in Deutschland gelebt habe. Ich hatte gehofft, ich könnte fürs erste bei dir abstürzen bis ich eine feste Bleibe gefunden habe. Heißt ein Grundstück gekauft und ein Haus für meine Familie gebaut habe oder eine schön große Eigentumswohnung gefunden habe.“
„Und jetzt?“
„Jetzt ziehe ich bei dir ein, wenn du erlaubst. Ich hoffe doch einfach, du hast noch ein Gästezimmer übrig, dass man für einen längeren Aufenthalt entsprechend umrüsten kann?“
Er war sprachlos, damit hatte er nicht gerechnet.
„Habe ich eine Wahl?“
„Wenn du in einem beschissen kalten Winter deine liebe Schwester nicht in der Kälte stehen lassen willst, nein. Außerdem mache ich mich im Haushalt nützlich, koche für dich und meine Nichte und wenn du ganz besonders lieb bist, unterstütze ich meinen Lieblingsbruder auch ein bisschen finanziell. Mein Nicht-Lieblingsbruder hat eh schon viel zu viel und protzt auf Instagram mit seinem Tesla Fuhrpark, dieser Blödmann.“
Er seufzte schwer, sie machte es ihm mit Lockungen schwer, sie vor die Tür zu setzen, das war schon immer ihre Taktik gewesen, wenn sie etwas haben wollte. Blöde Kuh. Auf der anderen Seite war sie seine Schwester und in ihrem bisherigen Gespräch doch recht locker und sympathisch. Er dachte eine Sekunde nach und nippte in der Zwischenzeit am Red Bull.
„Ok, du kannst hier wohnen“
„Oh vielen, vielen Dank, Joschi. Du bist ein toller großer Bruder.“
Sie klang aufrichtig und lächelte warm, was ihn etwas erleichterte.
„Wie viel Gepäck hast du denn?“
Sie wischte sich die Augen und sah dann auf.
„Ein paar Sachen zum Anziehen für alle Jahreszeiten, Erinnerungsstücke an meine Familie, Geschenke für morgen und meinen Laptop.“
„Mh, ich habe aber kein Gästezimmer.“
Sie sah ihn verdutzt an.
„Aber du schreibst doch immer auf deinem Blog, dass du eine ziemlich große fünf Zimmer Wohnung hast. Da wird doch ein Raum als Gästezimmer übrig geblieben sein.“
„Stimmt, und ich arbeite selbstständig von Zuhause aus. Also Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Lucy und mein Schlafzimmer. Und das Fünfte Zimmer ist mein Klemmbaustein-Studio mit über einer Millionen Lego Teilen und meiner Filmausrüstung, nach zwanzig Jahren ist mein Auftritt auf ein paar Video-Plattformen so groß, dass ich mein Hobby überwiegend refinanzieren kann. Aber wenn es dich tröstet, in meinem Schlafzimmer steht ein zweites großes Bett, falls Besuch kommt.“
„Wozu denn das?“
„Für Silvester, da kommen sowohl unsere Eltern als auch mein kleiner Bruder mitsamt seiner Familie auf ein paar Tage vorbei. Immer zu mir, weil ich Fahrstuhl habe.“
„Und wo schlafen dann alle?“
„Mama und Papa auf dem großen Schlafsofa im Wohnzimmer, Johnny und seine Frau auf dem Extrabett in meinem Zimmer, weil wir Neujahr morgens meistens zu dicht sind als dass er nach Hause fahren dürfte, auch wenn seine Teslas Autopilot haben. Und meine … ähm unsere Nichten schlafen bei Lucy im Zimmer, dazu habe ich ein paar Matratzen lagernd.“
„Und ich?“
„Du hast in den letzten sechsundzwanzig Jahren keine Rolle gespielt, aber ich lege dir eine Matratze in mein Büro. Bettzeug habe ich genug und die Matratzen sind schön weich und bequem.“
„Die kannst du doch nehmen. Ich …“
Sie brach ab, als sie seinen bösen Blick bemerkte.
„Ok, ich nehme die Matratze im Arbeitszimmer, auch wenn mir ein anständiges Bett lieber wäre.“
„Stimmt, aber Prinzeschen kann sich doch ruhig von all ihrem Geld für die Nacht ein Hotelzimmer holen, wenn es ihr an den Füßchen zu kalt wird.“
„Du bist doof.“
„Damit endet jeder zweite Satz meiner Tochter, wenn sie mit mir spricht.“
Bemerkte er beiläufig.
„Das ist aber nicht sehr nett. Wie ist sie denn so?“
„Sie hat überraschenderweise reichlich Elemente von dir und klein Johnny, hat das meiste von ihrer Mutter und ein bisschen auch von mir. Sie ist regelmäßig bockig, ein bisschen sehr zickig, eine Heulsuse, wenn sie ihren Willen nicht durchgesetzt bekommt, sehr kreativ, beschissen schlecht in der Schule, flüchtet sich in virtuelle Welten, um der unbequemen Realität auszuweichen, absolut grottig im Umgang mit netten Jungen und schminkt sich seit rund zwei Jahren wie eine Schlampe. Kurz um, sie ist gelegentlich liebenswürdig, aber es gibt viele Momente, da würde ich ihr gerne eine scheuern. Gerade wenn ich in Ruhe arbeiten oder entspannen will und sie mir wegen Drama und Jungs auf den Sack geht oder der Dauerrenner, sie will etwas sofort und dringend haben, aber ihr Taschengeld reicht nicht. Natürlich kommt sie ganz nach ihrem Onkel Johnny und räumt nie auf, also bleibt der ganze Mist an mir hängen. Also arbeite ich täglich neun bis zwölf Stunden, damit meine liebe Tochter drei Mahlzeiten am Tag und eine gute Bildung bekommt und in einem warmen Bett in einer scheißteuren Wohnung schlafen kann. Dazu muss ich natürlich kochen und ihr morgens eine Brotbüchse machen, ich bin der Geldautomat, wenn sie Süßigkeiten, Makeup, Essen gehen, zum Frisör – was sie viel zu oft macht – oder ins Kino will, ich muss mich allein um den Haushalt und nebenbei um meine bockige Tochter kümmern.“
Sie musterte ihn mit einem mitleidigen Blick in den Augen.
„Sie kann ja nicht von alleine auf deiner Türschwelle aufgetaucht sein, was macht denn ihre Mutter? Ich hab auf den ersten Blick keine Damenschuhe oder –Mäntel gesehen.“
Er sah sie einen Moment traurig an.
„Lucys Mutter ist zwei Tage nach ihrer Geburt an Entkräftigung gestorben.“
Gianna riss die Augen auf und wirkte erschüttert.
„Oh verdammt, das tut mir Leid. Trauerst du sehr?“
„Es ist ein bisschen kompliziert, weil wir nie in einer Beziehung waren.“
Er holte Luft und erzählte ihr die Geschichte, die er erst vor wenigen Tagen Luise Hofgärtner erzählt hatte. Als er endete, musterte sie ihn nachdenklich.
„Also wart ihr nicht in einer Beziehung und da hast dich wie der größte Riesenarsch in der Geschichte benommen und gleichzeitig gezeigt wie sehr du du selbst bist, wenn du mit schwierigen Situationen konfrontiert wirst, also der feige Idiot, der den Kopf in den Sand steckt und hofft, es wird schon nichts passieren. Papas Reaktion hingegen fand ich stark, so handelt ein verantwortungsvoller Erwachsener, nicht wie du. Ich hoffe Assyas Grab ist tipp-top gepflegt, sonst trete ich dir gehörig in den Arsch.“
„Nette Worte. Sie ist bisher nur ein bisschen Depressiv, zum Glück bisher keine Suizidgedanken, aber dann ist sie wochenlang still, geknickt und kraftlos. Aber das reicht mir schon.“
„Und dann versuchst du dummer Volltrottel einen Vollzeitjob und die Erziehung gleichzeitig ohne Hilfe zu stemmen. Ein Mädchen, bzw. Kinder allgemein brauchen am besten zwei Elternteile. Und du bist nicht so hässlich, als würdest du keine finden, zumal du fit und definitiv nicht arm bist, so wie das klingt.“
„Ach echt? Wäre ich nie drauf gekommen. Aber vor Lucy lief da schon nichts und als Lucy geboren war … naja, Single Papas sind als Partner nicht so gefragt, habe ich auf die harte Tour festgestellt. Und komm schon, im Alter wird man nicht hübscher, ich bin zwar fitter geworden, aber das war‘s schon. Außerdem hatte ich alle Hände voll zu tun mit meiner Selbstständigkeit und meiner Tochter, da war einfach kein Platz mehr für Dates. Ich hab eh praktisch keine Freizeit mehr, gerade als Lucy jünger war und sich noch nicht so gut selbst beschäftigen konnte. Mein Studio ist mein Rückzugsraum geworden, wo ich abends nochmal ein paar Stunden hingehe um ein bisschen zu basteln und Videos aufzunehmen. Oder aber ich mach’s mir in der Küche mit einem Buch bequem. Aber die Zeiten wo ich mal stundenlang machen konnte was ich wollte sind seit sechzehn Jahren vorbei, und kommen erst wieder, wenn Lucy endlich auszieht, aber bis sie lebensfähig ist, wird noch viel Zeit vergehen.“
„Warum das?“
„Sie gibt sich alle Mühe, Schule so richtig an die Wand zu fahren. Sie steht immer irgendwo fünf und reagiert allergisch auf Nachhilfeunterricht. Sie macht ihre Hausaufgaben nicht, sieht einfach nicht ein warum und fängt sich eine sechs nach der anderen ein. Sie zockt lieber und postet auf Instagram, als dass sie sich auf Tests und Klassenarbeiten vorbereitet. Sie ist in genau drei Fächern nicht völlig scheiße: Sport, Kunst und Schauspielunterricht. Also alles drei Fächer mit denen man sich eine „sichere Zukunft“ aufbauen kann.“
Kommentierte er sarkastisch, auch wenn er sich eigentlich furchtbar fühlte, so über seine Tochter herzuziehen. Klar lernte sie nicht so gern, aber war er als Jugendlicher so viel anders gewesen?
„Zudem ist sie dort auch nicht überragend gut. Jede Woche habe ich bei irgendeinem Lehrer ein Elterngespräch, über ihre schlechten Noten. Und natürlich bin ich schuld daran, dass meine Tochter so schlecht ist, ich der schlechte Vater, das schlechte Vorbild.“
„Wer sagt sowas?“
Er seufzte schwer.
„Andere Eltern und andere Lehrer. Weißt du meine bockige Tochter hat mir ein Date mit ihrer Lieblingslehrerin angeleiert. Luise Hofgärtner.“
„Was echt?“
Seine Schwester verkniff sich ein Lachen und schmunzelte.
„Ja, letzten Sonntag. Es ging gut, auch wenn der Anfang sehr holprig war. Jedenfalls haben wir Nummern getauscht und chatten seitdem regelmäßig, wenn die Brut anderweitig beschäftigt ist. Und da hat sie mir traurig erzählt, dass ich unter den Lehrern an der Schule keinen guten Ruf habe. Und das stimmt mich so traurig. Ich will meiner Tochter doch nur ein gutes Leben ermöglichen, aber sie stellt sich einfach so bockig und setzt ihren eigenen Willen durch, was selten in Lernen ausartet. Eher in Zocken und Serien bingen. Anschreien nützt nichts und ich mag keine Gewalt. Gut zureden nützt aber auch nichts. Es ist wie einen löchrigen Eimer mit Wasser zu füllen.“
Sie musterte ihn nachdenklich.
„Und wenn ich mein Glück bei ihr versuche?“
Er runzelte die Stirn.
„Wie meinst du das?“
„Ich hab zwei Söhne und mein Jüngster ist in ihrem Alter. Vielleicht kann ich mit ihr reden und sie dazu zu bringen das Schulleben ein bisschen ernster zu nehmen.“
„Das würdest du tun?“
Unglaube schwang in seiner Stimme mit. Seine Schwester machte was für ihren großen Bruder, das musste er sich im Kalender eintragen.
„Ja, irgendwas muss ich schließlich tun, ich kann doch nicht einfach die nächsten zwei bis drei Jahre hier herumsitzen und nichts tun, während das Haus gebaut wird. Ich wiederhole mich zwar, aber irgendwas muss ich schließlich tun.“
„Stimmt, du konntest nie still sitzen, du musstest immer irgendwas machen. Für dich war Schule prio Nummer eins, danach kam das Lesen von ganz wichtigen Sachbüchern oder Biografien und deinen ersten Businessplan hattest du schon mit fünfzehn.“
Sie schmunzelte.
„Das stimmt auch, aber viel Zeit für ein Sozialleben blieb dann in der Regel nicht.“
„Wie heißt dein Mann?“
Sie lächelte bei der Frage.
„Chris, er ist schwarz und sechs Jahre älter als ich.“
„Was hat deine Firma gemacht?“
„Sorry, das würdest du nicht verstehen.“
Er war gekränkt.
„Warum behandeln mich alle wie den letzten Dorftrottel?“
„Weil du manchmal wie einer rüberkommst?“
Er lehnte sich traurig zurück.
„Ok, hier die Kurzfassung, wir bauen komplexe Computerchips und Quantencomputer auf höchstem Niveau.“
Er sah sie erstaunt an.
„So viel Knowhow hast du?“
„Sicher, ich hab Physik und Informatik am MIT studiert.“
Joschi starrte seine Schwester vor lauter Unglauben an.
„Das MIT?“
„Genau, Abschluss mit Magna cum Laude.“
„Und wie konntest du dir das leisten?“
„Gar nicht, ich hab kein Stipendium bekommen und geschuftet wie Teufel, um mein Leben zu finanzieren. Aus dieser Zeit habe ich meine Verweigerungshaltung gegen die Wegwerfkultur und kaufe eigentlich alles nur second Hand und repariere kaputte Elektronik, anstatt sie wegzuwerfen. Ich hab gekellnert und Nachhilfe-Unterricht in Mathe, Informatik und Physik gegeben.“
Er stand auf und öffnete einen Schrank etwas weiter oben und griff sich eine Flasche Single Malt Whiskey und ein Glas, großzügig schenkte er ein und nahm einen tiefen Schluck.
„Du bist eine liebenswerte Zicke.“
„Danke, denke ich. Krieg ich auch einen?“
Sie deutete auf den Whiskey und er holte ihr murrend ein Glas. Sie trank mit Bedacht.
„Der ist gut.“
„Hat mir Johnny geschenkt, für Krisenzeiten.“
Gianna schmunzelte.
„Hätte dich nicht für einen Säufer gehalten.“
„Tja, so täuscht man sich. Mein kleines Leben läuft eben nicht gut.“
„Wie meinst du das?“
Fragte sie mit einem besorgten Unterton in der Stimme.
„Ende des Sommers sind mir vier ziemlich große Kunden abgesprungen und ich kämpfe seitdem damit über die Runden zu kommen. Meine Tochter soll ein angenehmes Leben führen können, aber das kostet und wenn es so weitergeht, muss ich die Reserve anbrechen, die eigentlich für ein neues Auto und eventuell eine Eigentumswohnung gedacht sind, die Wohnung hier ist zwar groß und schön, aber im Alter kann ich mir das einfach nicht leisten, dafür ist sie einfach zu verschwenderisch groß und teuer. Ernie wird den TÜV im Frühjahr nicht packen und dann hab ich kein Geld für ein neues Auto. Aber dann werde ich nächstes Frühjahr neunundvierzig und ich muss mir langsam Gedanken um meinen Ruhestand machen und wie ich mit meinen Sachen verfahre. Mit dem frühen Tod von Lucys Mutter habe ich mit Mitte dreißig schon mein Testament gemacht, damit es an meiner Tochter ans nichts fehlt, wenn mir etwas zustößt. Aber viel ist es nicht. Momentan schreibe ich überall rote Zahlen und es sieht nicht so aus, als würde ich im neuen Jahr plus machen, ich war schon immer schlecht daran, neue Kunden zu akquirieren.“
Sie musterte ihn aufmerksam und er nahm noch einen Schluck, es brannte angenehm in der Kehle.
„Und wenn du etwas anderes machen würdest?“
Er sah sie zweifelnd an.
„Das hab ich schon öfter überlegt, aber zum einen bin ich schon Ende Vierzig und wer will denn noch jemanden in dem Alter ausbilden. Und dann weiß ich nicht, was mit mir anzufangen ist und das größte Problem, ich könnte es einfach nicht finanzieren. Ich zahl knapp dreieinhalb Tausend für die Warmmiete, Unsummen für Versicherung und Steuern und eine völlig gefräßige Tochter bei Laune zu halten, die verschwenderisch mit ihrem Taschengeld umgeht und immer nach mehr bettelt, ist auch kein kleines Unterfangen. Der Job ist ok, aber Spaß macht er mir nicht mehr so wirklich wie noch vor fünfzehn Jahren.“
„Mh, aber du bist doch auch Autor, Youtuber und Blogger.“
„Stimmt, die Bücher und der Kanal, das bringt ein paar Taler, aber es deckt noch lange nicht die Miete, es reicht aber immerhin dafür um das Equipment zu finanzieren und ein paar der Versicherung zu deckeln. Und der Blog läuft ganz gut, nach fast zwanzig Jahren Bloggen, habe ich rund fünftausend Follower, aber momentan schreibe ich aber nur etwa einmal die Woche was und so verliert man eben Abonnenten am laufenden Band.“
„Das ist bedauerlich, mir ist zu Ohren gekommen, du seist recht gut. Jedenfalls nicht den Kopf in den Sand stecken und aufgeben, wie du es eigentlich immer schon gemacht hast, seit dem es dich gibt. Sobald Schwierigkeiten in Sicht kommen, buddelst du dich ein und tust so, als könntest du dich da durchmogeln indem du nichts tust und nicht einfach untergehst. Ich hab gelernt, es ist nicht schlimm wenn du auf die Nase fliegst, solange du danach wieder aufstehst und weitermachst.“
Er schluckte und spülte mit Whisky nach.
„Stimmt schon, ich war immer schon so. Aber mit Lucy ist es dann besser geworden, meine Tochter könnte ich nie im Stich lassen. Und für sie springe ich schon mal in einen Brombeerbusch, wenn es ein großes Problem gibt.“
„Gute Einstellung, deine Tochter braucht einen starken Vater, kein rückgratloses Weichei.“
Schweigend saßen sie da und tranken Whisky. Dann gähnte sie demonstrativ.
„Hast du irgendwo vielleicht ein weiches Bett, ich würde mich gerne hinlegen, ich bin seit vierzig Stunden auf den Beinen, weil ich noch so viel erledigen musste!“
„Alles klar, komm mit und vergiss Luise nicht.“
Er stand auf und ging in den Flur, wo er ihren Rollkoffer nahm. Damit ging er auf eine Tür links am Ende des sehr langen geräumigen Flures zu, in dem man fast schon Bälle abhalten konnte. Er öffnete die Tür und machte Licht an. Es war wirklich keine Besenkammer, wie er sein Schlafzimmer immer scherzhaft nannte, denn immerhin hätte sein altes Wahnzimmer hier spielend zweimal reingepasst. Aber es war jetzt auch nicht gewaltig riesig, es maß etwa dreißig Quadratmeter, also ein Zehntel der Wohnungsfläche und war rechteckig langgestreckt. Abgesehen von den beiden großen Betten war alles bis unter die nicht gerade niedrige Decke mit Regalen und Schränken vollgestopft und in der freien Fläche in der Mitte des Raumes standen zwei vollbestückte Wäscheständer, einer mit Unterwäsche und Socken, der andere mit Bettwäsche. Er stellte den Rollkoffer neben ein großes Bett, das er in ein Regal eingebaut hatte, sodass einer der Schlafenden des Doppelbetts in einer Art Höhle nächtigte.
„Da schläft unser Bruder und seine Frau Natalie, wenn sie zu Besuch sind und übernachten, ab und zu auch unsere Eltern, wenn sie länger zu Besuch sind, was aber nicht mehr so oft vorkommt, da sie auch schon recht alt sind. In den Nachthimmel ist ein Bildschirm eingelassen, sodass man im Liegen noch etwas bequem gucken kann. Mein Bett ist das große mit den ganzen Plüschtieren, schwer zu verfehlen.“
Gianna stellte den Rucksack neben den Koffer und entfaltete eine der dicken Daunendecken, die er schon in Vorbereitung auf den Besuch ihrer Eltern zwischen den Jahren vorbereitet hatte. Sie legte das Plüschkrokodil neben das Kopfkissen und schlüpfte ungeniert aus Jeans und Rollkragenpullover, Schmuck trug sie keinen und den Ehering ließ sie am Finger. Dann ließ sie sich in Unterwäsche und T-Shirt schwer aufs Bett plumpsen und kuschelte sich sofort ein und machte die Augen zu, sie schien echt fertig zu sein. Leise machte er sich auch fertig und gesellte sich zu den wenigstens vier Dutzend Plüschtieren, davon eine große Rotte Plüschwarane, in sein großes Bett mit der wahnsinnig tollen Matratze und fiel schnell in einen tiefen Schlaf.